Geschichte des Chores

Dieser ausführliche Artikel zur Geschichte des Chores wurde anlässich des 70-jährigen Jubiläums 2015 verfasst. Autorin ist Hiltrud Neidhardt, die damalige 1. Sprecherin des Freundeskreises.

Der Oldenburger Jugendchor wird 70 Jahre alt!

Oldenburg erfreut sich einer großen Vielfalt von Chören, einige verfügen schon über eine lange Tradition. Aber Tradition und Jugendchor, das erstaunt zunächst.

Wenn man heute an einer Ecke in der Stadt plötzlich auf eine kleine Gruppe mehrstimmig singender junger Menschen trifft, die auswendig spontan ihrer Lebensfreude Ausdruck geben – oder wenn in einem vollbesetzten italienischen Restaurant nach einem Großeinsatz der pizzaverteilenden Ober der klassische Schütz-Satz „Aller Augen warten auf Dich, Herre, und Du gibest ihnen ihre Speise zu seiner Zeit“ erklingt, kann man ziemlich sicher sein, dass es sich hier um den Oldenburger Jugendchor handelt.

Ja, er ist immer noch sehr lebendig! Auch nach 70 Jahren gibt es in Oldenburg junge Menschen, die sich dieser sangesfreudigen Gruppe anschließen und damit jene Tradition fortsetzen, bei der die Pflege eines vielfältigen Repertoires, das auswendig gesungen wird, im Zentrum der musikalischen Aktivität steht. Singen im Chor setzt voraus, dass man sich aufeinander einstellt, aufeinander hört und aufeinander eingeht. Nur so entsteht etwas Gemeinsames, an dem alle ihre Freude haben.

Das bedeutet aber nicht, dass hinter diesem Jubiläum 70 gleich ablaufende Chorjahre stehen. Der gesellschaftliche Wandel ließ auch den Jugendchor nicht unberührt. Gute Phasen wechselten mit schwierigen, was für die jeweiligen Chorleiter bzw. -leiterinnen nicht immer einfach war.

Es lohnt sich, den Jahrzehnten des Oldenburger Jugendchores einmal nachzuspüren.

1945 - 1953: Kurt Wiesemann

Gegründet wurde er unmittelbar nach dem Krieg von dem jungen Lehrer Kurt Wiesemann, der aus Kunersdorf bei Frankfurt/Oder in die Heimatstadt seiner Frau gekommen war und hier mit seiner Familie wie viele andere Flüchtlinge ein neues Leben aufbauen wollte. Wiesemann war ein charismatischer Chorleiter, der aus Überzeugung eine breite musische Bildung anstrebte: die Vernetzung von Gesang, Wort, Tanz und Laienspiel, sogar Puppenspiel, war sein Ideal. Er wandte sich mit seiner Idee, jungen Menschen seelische Unterstützung durch aktives Musizieren zu geben, an die britische Militärregierung, die seinem Ansinnen wohlwollend gegenüberstand. Dabei knüpfte er bewusst an die Erfahrungen aus den HJ-Spielscharen und der Wanderbewegung an. Sein Ziel war es aber auch, neben der Pflege des vertrauten Volkslieds zu geistlicher Musik zu führen und damit die vielfach verloren gegangene kirchliche Bindung zu erneuern.

In der Trostlosigkeit und bitteren Mangelsituation nach dem Kriege wurde sein Angebot begeistert aufgegriffen. Zum ersten Treffen am 21. Juli 1945 erschienen im Evangelischen Gemeindehaus an der Peterstraße 49 Mädchen und fünf Jungen, am zweiten Abend kamen schon 80 junge Menschen. Mit Kanons und dreistimmigen Chorsätzen wurde ein behutsamer Anfang gewagt, zwei Auftritte in Gottesdiensten folgten im Herbst. Nicht alle waren bereit, diesen Weg einer verstärkten kirchlichen Orientierung mitzugehen. Aber durch seine mitreißende Ausstrahlung gewann der junge Chorleiter die allermeisten Chormitglieder und ebenso das Oldenburger Publikum. Das am 20. Dezember 1945 in der Garnisonkirche aufgeführte Krippenspiel musste fünfmal wiederholt werden!

Im Winter brachten die Choristen Brennmaterial für den Ofen mit, oft musste auch in Schal und Mantel geprobt werden. In den desolaten Zeiten, in denen in Oldenburg Tausende von Flüchtlingen Unterkunft und neue Lebensmöglichkeiten suchten und die Einwohner zusammenrücken mussten, verstand es Kurt Wiesemann, ein Gegengewicht zum anstrengenden, entbehrungsreichen Alltag zu schaffen. Der Chor wurde für seine Mitglieder zur Heimat und die durch die Musik erlebte Gemeinschaft ließ die täglichen Nöte in den Hintergrund treten. Notenmaterial stand kaum zur Verfügung, es wurde mühselig von Hand kopiert und dann als Lichtpause vervielfältigt – auch spätere Jugendchorgenerationen kennen manche Sätze nur aus diesen Unterlagen, die sehr bald allerdings nicht mehr in Sütterlin-Schrift geschrieben wurden.

Die Bemühungen in diesen Zeiten, junge Menschen anzusprechen, muten heute eher seltsam an. So trat der Chor 1946 im Staatstheater in einer Veranstaltung „Jugend, komm zur Jugend!“ auf, bei der Kinder und Jugendliche für musikalische bzw. sportliche Aktivitäten gewonnen werden sollten. Im ersten Teil sang der Chor Lieder zum Tagesablauf, unterbrochen durch den Vortrag von Gedichten. Nach der Pause führten Jugendliche turnerische Übungen wie Bockspringen und Barrenturnen, Keulenschwingen und Volkstanz vor.

Bald schon wurde der Chor zu regelmäßig zu feierlichen Anlässen um einen musikalischen Beitrag gebeten. Die Kalender der Nachkriegsjahre zeigen eine eindrucksvolle Fülle von Chorereignissen: geistliche Konzerte und Singen in Gottesdiensten in Oldenburg und verschiedenen Orten im Nordwestraum, Krippenspiele in der Garnisonkirche und Laienspielaufführungen in der Freilichtbühne des Ziegelhofs, aber auch Sommersingen zur Sommersonnenwende am Dobbenteich und Konzerte mit Madrigalen und Volksliedern.

Auch der gesellige Teil mit Wandern, Spielen und Festen wurde gepflegt, und nachdem das Blockhaus Ahlhorn unter Mitwirkung des Jugendchores an die evangelische Kirche übergeben worden war, fand der Chor hier einen idealen Raum für musische Betätigung und fröhliches Miteinander. Bis heute verbringt der Oldenburger Jugendchor im Blockhaus jährliche Probenwochenenden.

Als sich nach der Währungsreform 1948 die wirtschaftliche Lage besserte und sich für die Menschen vermehrt berufliche Perspektiven auftaten, hatte dies auch Folgen für den Jugendchor. Einige Mitglieder zogen fort, weil sie woanders Arbeit fanden, andere wiederum waren in ihrem Beruf stark beansprucht, so dass die Zeit, die für ein Engagement im Chor blieb, knapper wurde. Da kam die Einladung von Hermann Ehlers, im Bonner Bundeshaus bei einem Empfang des Diplomatischen Korps zu singen, gerade recht. Durch diesen Auftritt und eine anschließende Konzertreise nach England, die durch persönliche Freundschaften des Chorleiters Wiesemann zustande gekommen war, ergaben sich für die Chorarbeit neue Perspektiven. In diese aufstrebende Phase fiel die plötzliche schwere Erkrankung Kurt Wiesemanns, der am 2. August 1953 starb.

In den folgenden Wochen zeigte sich, wie stark die Gemeinschaft des Chores entwickelt war – während nach einer neuen Leitung gesucht wurde, sorgten einige Chormitglieder dafür, dass sich die Gemeinschaft weiterhin zum Singen zusammenfand.

1953 - 1979: Heinz Kanngießer

Schon am 9. Oktober 1953 übernahm Heinz Kanngießer als neuer Musiklehrer der Graf-Anton-Günther-Schule die Leitung des Oldenburger Jugendchores. Das Jahr 1954 diente der Orientierung. Der neue Chorleiter erweiterte das Repertoire vorsichtig um moderne Kompositionen, bemühte sich aber weiterhin um die Tradition von Musik, Spiel und Wandern in Ahlhorn. Dennoch wurde deutlich, dass er nicht der Mann des Laienspiels oder Volkstanzes war, sondern der Schwerpunkt jetzt eindeutig auf der Musik lag, auf der Grundlage einer fröhlichen, bei den Proben konzentriert arbeitenden Gemeinschaft.

Chorwochenenden im Frühling, Herbst und Advent im Blockhaus Ahlhorn sowie das weihnachtliche Konzert und die musikalische Ausgestaltung eines Weihnachtsgottesdienstes in der Lambertikirche blieben feste Punkte im Chorjahr. Ab 1960 kam das jährliche Sommersingen im Rosengarten des Schlossgartens dazu. Aber bei aller Pflege des Repertoires und seiner modernen Erweiterung trat eine gewisse Stagnation ein. Es gab neue Konkurrenz zum Singen im Jugendchor, das gesungene Liedgut schien erschöpft und eine Weiterentwicklung zunächst nicht absehbar.

In dieser Situation wurde die Anregung, Pfingsten 1962 mit dem Chor zu den „Festlichen Tagen“ nach Berlin zu fahren, dankbar aufgegriffen. Der Jugendchor errang bei diesem Treffen durch seinen großen Schatz an Sätzen, die jederzeit und an jedem Ort auswendig vorgetragen werden konnten, Achtung und Anerkennung. Ein Beispiel dafür ist die 1964 erfolgte Einladung nach Nevers an der Loire zum Festival „Europa Cantat II“. Dies brachte den Durchbruch zu einer neuen Öffnung nach Europa hin, eine Entwicklung, die bis heute den Kern der Arbeit des Oldenburger Jugendchores ausmacht. Das alle drei Jahre stattfindende „Europa Cantat“ sowie Chorfestivals wie die „Choralies“ in Vaison-La-Romaine in der Provence oder europäische Singwochen, die wie „Europa Cantat“ immer an wechselnden Orten stattfinden, bedeuteten und bedeuten eine großartige Bereicherung der Chorarbeit.

Die Chöre stellen sich hier mit eigenen Programmen vor und geben damit auch den anderen Teilnehmenden die Möglichkeit, verschiedene europäische Gesangskulturen kennen zu lernen. Ein besonderes Erlebnis bieten das „Offene Singen“, bei dem alle teilnehmenden Chöre unter der Leitung von Chorleitern verschiedener Länder Lieder und kürzere Sätze intonieren, wobei auf ein gemeinsames europäisches Repertoire zurückgegriffen wird, das im Laufe der Jahre entstanden ist. Wo immer sich heute ehemalige Besucher solcher Chorwochen treffen, kommt es oft spontan zum gemeinsamen Singen, wobei auf ein allen bekanntes vielfältiges Liedgut zurückgegriffen werden kann.

Wohl am tiefsten und eindrucksvollsten bleiben die Erinnerungen an die sogenannten Ateliers. Dabei treffen sich die Chöre in Gruppen und studieren größere und große Werke ein, die dann an den Abenden in Konzerten für alle aufgeführt werden. Für den Jugendchor, der fast ausschließlich A-capella-Werke singt, ist das immer wieder eine großartige Erfahrung.

1964 war auch ein Jahr des europäischen Aufbruchs in politischer Hinsicht. So fand in Nevers im Rahmen von „Europa Cantat II“ die Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks statt. In dieser Zeit wurde auch der Kontakt zu dem Pariser Chor „La Psalette de Paris“ unter Leitung von Alain Chouvet geknüpft – mit der Folge zahlreicher wechselseitiger Besuche in Paris und Oldenburg und gemeinsamer Konzerte.

Von nun an nahm der Oldenburger Jugendchor regelmäßig an „Europa Cantat“ teil, dazu viermal an den „Choralies“ in Südfrankreich. Mit zunehmender Erfahrung traute Chorleiter Heinz Kanngießer seinem Chor anspruchsvollere Aufgaben zu: 1971 studierte er im Atelier die „Psalmensymphonie“ von Igor Strawinsky ein, 1972 das „Stabat Mater“ von Penderecki. 1973 folgte in Autun die wohl größte musikalische Herausforderung, der sich der Chor je im Atelier gestellt hat: „Friede auf Erden“ von Arnold Schönberg – ein eindrucksvolles A-cappella-Werk, dass unter der Leitung eines Chorleiters aus Barcelona mit großer Disziplin hingebungsvoll geprobt wurde.

Bevor Heinz Kanngießer 1978 den Chor an seinen jüngeren Nachfolger Gerd Meyer übergab, standen noch zwei besondere Reisen auf dem Programm. Meinert Thier berichtete seinerzeit darüber:

Unsere große menschliche Bewährungsprobe kam 1976 beim ‘Europa Cantat IV‘ in Leicester, England. Der Chor wurde von Paul Wehrle, dem damaligen Generalsekretär der ‘Europäischen Föderation junger Chöre‘ gebeten, in einem gemeinsamen Atelier mit einem Spitzenchor aus Israel zusammen zu singen. Man vertraute der Unbefangenheit und Reife unserer jungen Chorsänger. In kleiner Runde und abseits der großen Demonstration ergaben sich Kontakte und persönliche Erfahrungen, die dann 1977 zur erstmaligen Einladung eines deutschen Chores zur ‘10. Zimriya‘ in Israel führten.

Das gemeinsam einstudierte Werk in Leicester war das Oratorium „A Child of our Time“ von Michael Tippett. Dessen Werk erzählt die Leidensgeschichte eines jüdischen Kindes der jüngsten Vergangenheit und bringt in ergreifender Art innere Qual und dramatisches Geschehen dichterisch und musikalisch zum Ausdruck. Sir Michael Tippett erläuterte selbst in einer Probe sein Werk vor den tiefbewegten Choristen.

Die Reise nach Israel 1977 brachte für den Chor neben der Atelierarbeit in Tel-Aviv Konzertauftritte an verschiedenen Orten des Landes, wo die deutschen Besucher die Gastfreundschaft im Kibbuz genießen durften. Die in Israel gemachten Erfahrungen reichten von Ablehnung und stummer Distanzierung bis hin zu freundlichem Zuspruch, sobald der Chor anfing zu singen, und schließlich sogar zu Gesprächen auf Deutsch. Als an einem Abend im Freiluftkonzert der Chor als letzte Zugabe „Der Mond ist aufgegangen“ vortrug, sangen auf einmal einige Zuhörer mit. Wer dabei gewesen ist, wird es nie vergessen.

Im nächsten Jahr, 1978, besuchte ein israelischer Chor Oldenburg, die Unterbringung erfolgte in Familien, und ein gemeinsames Konzert in der Lambertikirche schloss die schöne Zeit ab.

1979 - 1996: Gerd Meyer

In dieser Zeit wuchs Gerd Meyer schon in die Nachfolge von Heinz Kanngießer hinein. Er hatte in Hannover die Chortradition Willy Träders kennengelernt und übernahm kein unbekanntes Feld. Als Musiklehrer an der Graf-Anton-Günther-Schule und später an der Liebfrauenschule führte er den Chor menschlich und musikalisch zu weiterer Blüte.

Gerd Meyer pflegte die Freundschaft zu Alain Chouvet und seinem Pariser Chor und auch der Kontakt zu Israel lebte weiter. 1986 reiste der Chor wieder zur „Zimriya“. Im selben Jahr begann eine neue Zusammenarbeit: Der „Fürst-Sandor-Jugendchor“ aus Budapest besuchte Oldenburg und eroberte mit Temperament und Czardas die Herzen aller. Ein Jahr später erlebte die Oldenburger in Budapest eine überwältigende ungarische Gastfreundschaft. Damit war ein Kontakt entstanden, der 1988 beim Europa Cantat X im ungarischen Pecs und in den Folgejahren noch vertieft wurde.

1991 stand die Teilnahme an „Europa Cantat XI“ in Vitoria/Spanien auf dem Programm. Im Atelier erarbeitete der Jugendchor Mozarts Große Messe in c-Moll. Der Chor gab seine eigenen Konzerte in Vitoria und, auf besondere Einladung des Bürgermeisters, in Guernica. Auch in diesem durch die Geschichte für Deutsche so belasteten Ort trafen die jungen Sängerinnen und Sänger auf offene Ohren und Herzen.

Ein Austausch mit dem Chor „Reyes Bartlet“ aus Teneriffa erweiterte erneut den musikalischen und regionalen Horizont des Jugendchores.

Neben all den internationalen Kontakten und Auslandsreisen ziehen sich wie ein roter Faden im Jahresablauf die Ereignisse, für die Kurt Wiesemann schon die Grundlage gelegt hatte: das Sommersingen im Schlossgarten, die weihnachtlichen Chorkonzerte und das Singen am Heiligen Abend in der Lambertikirche, die Chorwochenenden in Ahlhorn und die Himmelfahrts-Radtour. Der musikalische Alltag wird wesentlich bestimmt durch die Pflege des Repertoires an Chorsätzen, die auswendig gesungen werden, was dem inneren Zusammenhalt der Chorgemeinschaft zugutekommt.

Eine besondere Herausforderung stellte überdies die personelle Fluktuation dar, wie sie für jeden Jugendchor typisch ist. Hinzu kamen in den 80er und 90er Jahren die sich ändernden Zeitumstände, die auch das Chorleben tangierten. So weiteten sich die Angebote für junge Menschen, ihre Freizeit zu gestalten, enorm aus. Auch die privaten Reisemöglichkeiten nahmen ständig zu, so dass es immer schwieriger wurde, die Chortermine mit all den persönlichen und familiären Planungen in Übereinstimmung zu bringen. Gerd Meyer hat sich intensiv mit dieser Thematik auseinandersetzen müssen. Er soll daher an dieser Stelle ausführlicher zu Wort kommen:

Doch haben sich im Laufe der Jahre die musikalischen Präferenzen geändert. Sie gehen Hand in Hand mit den gesellschaftlichen Veränderungen, den veränderten Bedürfnissen der Menschen und den zunehmenden Einflüssen durch die Medien. Die geradezu heftigen Attacken im Bereich der Popmusik beeinflussen die Jugend in erheblichem Maße. Darauf muss auch bei uns im Jugendchor angemessen reagiert werden, wollen wir attraktiv bleiben und nicht in den Verruf der Rückständigkeit kommen. Demzufolge hat sich die Probenarbeit auch dieser Musikart anzupassen. Ist das ‘Verrat‘ an der einstmals unter Kurt Wiesemann entstandenen Grundkonzeption? Sicherlich nicht. Schon durch die allmähliche Öffnung Europas wurde der Jugendchor durch Heinz Kanngießer in den 60er und 70er Jahren mit anderen Dimensionen auf internationalen Chorfesten im In- und Ausland erfolgreich bekannt gemacht, wenn auch zu der Zeit die Popmusik erst geringen Einfluss auf die Chormusik aufweisen konnte. Die Entdeckung und Erschließung europäischer Chormusik mit ihren spezifischen Eigenarten durchdrang während dieser Jahre das Leben im Jugendchor in sehr befruchtender und anreizender Weise. Die musikalischen Angebote z.B. bei den ‘Europa Cantat‘-Festen erstrecken sich erst seit einigen Jahren auch auf die Popmusik. Ihre Negierung in der heutigen Chormusik-Landschaft durch den Chorleiter käme einer Bevormundung der Jugend, der Verdrängung oder Beschneidung ihrer Bedürfnisse gleich. Sie wäre anachronistisch, zumal vorzügliche Arrangements vorliegen. Gleichzeitig wäre es eine Unterschätzung jugendlichen Beurteilungsvermögens. Die Jugendlichen Sänger wissen sehr wohl Qualität von ‘thönend Geplerr und Geleyer‘, wie es J.S. Bach einmal formulierte, zu unterscheiden. Sie sind offener und lernbereiter, kritischer, wissbegieriger, aber auch toleranter als mancher erwachsene und erfahrene Chorsänger und Chorleiter.

Die Erwartungshaltung der Jugendlichen gegenüber der Chormusik darf nicht durch egoistische Einengung enttäuscht werden. Erst die Vielfalt des musikalischen Angebots schafft die Voraussetzungen für Vergleich, Beurteilung und Erleben von Chormusik. Vielfalt im chorischen Angebot und musikalische Disziplin schließen auch eine Erziehung zur Toleranz ein. Einem nicht besonders ‘gemochten‘ Chorsatz folgt mit Sicherheit ein ‘besserer‘. Das kann jeder erfahren. … Der natürliche, freundliche und offene Umgang bereitet ein Klima, das für ein fröhliches und fruchtbares Chorleben wichtig ist.“

In der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Oldenburger Jugendchores 1995 zogen einige ehemalige Mitglieder ein Fazit ihrer Chorerlebnisse. Sie verglichen die internationalen Begegnungen in der Musik mit denen im Sport, wo die Konkurrenz im Vordergrund steht:

Das Gegenmodell liefert die Musik, insbesondere die Chormusik: sie fördert das Miteinander. Kein Wunder: sie ist darauf angewiesen! Und wenn das Ergebnis dieses Miteinanders hörbar wird in den großen Atelier-Konzerten, wie auch im Offenen Singen, wo mehrere hundert Sängerinnen und Sänger aus dutzenden Ländern völlig konkurrenzlos ein gemeinsames Repertoire erarbeiten, wird fühlbar, dass Musik ein Medium ist, das über Völker-Kontakt und -Verständigung hinaus auch völkerverbindend sein kann.

1997 - 2002: Thomas Busch

Vieles aus diesen ersten Jahrzehnten des Oldenburger Jugendchores hatte auch weiterhin Bestand, auch wenn Veränderungen nicht ausbleiben konnten. Thomas Busch, der ab 1997 den Chor fünf Jahre lang leitete, legte nun auch in Oldenburg einen Schwerpunkt auf das Singen größerer Werke, die gemeinsam mit dem Schulchor zur Aufführung gebracht wurden. Dennoch erhielt sich das Repertoire und es blieb auch bei den jährlichen Auslandsreisen.

2002 - 2013: Svetlana Gelbard

Als 2002 Svetlana Gelbard den Chor übernahm, lag zum ersten Mal die Chorleitung nicht mehr in den Händen einer Musiklehrkraft. Svetlana Gelbard hatte in Russland Chorleitung studiert und war eine begeisternde Chorleiterin, aber ihr fehlten die Kontakte zu den Schulen, vielleicht auch anfänglich durch die sprachlichen Probleme bedingt. Dafür erweiterte sie in das Repertoire des Chores um russische und osteuropäische Musik und vertiefte die musikalische Zusammenarbeit mit der Oldenburger Jüdischen Gemeinde.

Das traditionelle Weihnachtskonzert des Chores fand einen neuen Platz am 4. Advent als Höhepunkt der täglichen Adventsmusiken, die nun in der Lambertikirche stattfanden. Dadurch wurde ein ganz neues Publikum erreicht, das weit über die Ehemaligen und Freunde des Jugendchores hinausreichte.

Dennoch verlor der Jugendchor an Ausstrahlungskraft und es gelang nicht mehr, genügend Nachwuchs für die jährlichen Abgänge zu finden, so dass schließlich nur noch eine kleine Chorgruppe übrig blieb.

2013 - 2015: Karin Gastell

Bei vielen ehemaligen Sängerinnen und Sängern rief diese Entwicklung tiefes Bedauern hervor und umso größer war die Freude, als die junge Kirchenmusikerin Karin Gastell aus Bremen im Jahr 2013 dafür gewonnen werden konnte, den Oldenburger Jugendchor neu aufzubauen. Aus dem Kreis der Oldenburger Schulmusikerinnen und -musiker sah sich niemand dazu in der Lage – die schulischen Anforderungen sind heute offenbar so groß, dass man vor zusätzlichen Aufgaben zurückschreckt.

Der Oldenburger Jugendchor versteht sich weiterhin als ein Chor, der für alle offensteht, die Freude am Singen haben und sich durch die Gemeinschaft bereichern lassen möchten, seien es nun Schülerinnen und Schüler oder jung gebliebene Erwachsene. Seit nunmehr zwei Jahren gelingt es Karin Gastell, in einfühlsamer Weise alte Traditionen mit neuen Anfängen für junge Sängerinnen und Sänger zu verbinden. Ein Höhepunkt dieses Jubiläumsjahres wird für den Chor die erneute Teilnahme bei „Europa Cantat“ – wiederum in Pecs in Ungarn – sein.

Überdies wird im Oktober in Oldenburg in Anlehnung an die Atelierkonzerte ein Projekt mit Karin Gastells Bremer Allegro-Chor aufgeführt, und zwar gemeinsam mit dem Oldenburger Jugendchor. Angeboten wird ein Allegro -4 –Youth Konzert: junge und noch nicht so erfahrene Sängerinnen und Sänger haben die Möglichkeit, zusammen mit den „Profis“ Mozarts Große Messe in c-Moll einzustudieren, und zwar jene Teile, die sie stimmlich und zeitlich bewältigen können. Die bisherige Erfahrung mit Allegro-4-Youth zeigt, dass es auf diese Weise gelingen kann, Jugendliche für den Chorgesang dauerhaft zu begeistern.

Fazit: Der jetzt eingeschlagene Weg des Oldenburger Jugendchors, den viele Ehemalige ideell begleiten, stimmt hoffnungsfroh!